Holly Golightly

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#65
Cartagena/Kolumbien

Raum-Zeit-Kontinuum

  • Reisegeschichten

Unser Rückweg nach Cartagena endet nach fünf Stunden anstrengender aber spannender Busfahrt wieder im großen Busterminal von Cartagena. Jetzt noch schnell eine Taxifahrt zum Jachthafen in dem wir Holly sicher vertäut haben. Es ist schon dunkel und wir freuen uns auf unser schwimmendes Zuhause!

Direkt am Ausgang des lauten und quirligen Terminals geraten wir in die Fänge eines Fahrers, der sich intensiv und lautstark bewirbt uns zum Ziel zu bringen. Da der Preis recht günstig ist (ca. 10 € für 30 Minuten Fahrt), beißen wir an. Er führt uns zu seinem „Taxi“, das so ganz und gar nicht nach offizieller Beförderung aussieht. Immerhin hat es vier Räder, Scheiben, Lampen rundum und einen Motor vermutlich auch. So steigen wir etwas zögerlich aber optimistisch in das mattrote Gefährt – die paar Kilometer wird‘s schon noch halten. Ein wenig befremdlich finden wir die Tatsache, dass der Fahrer vor dem Start noch fix die mit breitem Klebeband befestigte Heckscheibe in Position rückt und dass es mehrere Anläufe benötigt, bis eine Tür überredet werden kann, geschlossen zu bleiben. Nach diesen kleinen Unpässlichkeiten rollen wir schon vom Hof. Rollen bekommt in diesem Zusammenhang eine neue Bedeutung, fühlt es sich doch nicht nur auf den ersten Metern so an als ob unsere VIP-Limmo auf Hertgummirollen unterwegs ist.

An der Ausfahrt des Terminals bekommt eine allwissend lächelnde Dame in einem kleinen Häuschen noch schnell einen ganz klein gefalteten Geldschein vom Fahrer überreicht und schon tauchen wir ab in die Rushhouer von Cartagena.

Die breiten und mittlerweile dunklen Straßen sind übervoll mit einer wilden Mischung verschiedenster und buntester Fortbewegungsmittel. Wer meint, deutsche Straßen wären zur Hauptverkehrszeit übervoll, der muss leider eines Besseren belehrt werden: In Wirklichkeit sind sie untervoll! In Cartagena kann man erleben wieviele Fahrzeuge wirklich auf eine Straße passen!! Der Sättigungsgrad der Straßen ist überwältigend. Und das geht so: man nehme 2% lebensmüde Radfahrer, 3% ebenso lebensmüde Fahrrad-Rikschas, 5% Pferdefuhrwerke, 10% dreirädrige Mopped-Rikschas, 20% LKW bzw. Busse und 30% PKW. Alle nun noch vorhandenen Hohlräume füllt man gnadenlos mit 40% Kleinmotorrädern!! Na schon nachgerechnet?? Genau, es sind 110% – und genau so fühlt es sich auch an!

Diese kompakte, hoch gesättigte und qualmende Masse auf Rädern schiebt sich unaufhaltsam und wild hupend durch die Schluchten der Stadt. Wer jetzt aber meint, dass sich auf einer Fahrbahnseite alle von A nach B bewegen der irrt. Manche bewegen sich auch von B nach A oder von C nach A oder von X nach K oder auch gar nicht. Spontaner Gegen- oder Querverkehr ist auf der rechten und linken Spur völlig normal. Warum sollte man auch, wenn man „nur“ 100 m in die falsche Richtung muss, auf die richtige Seite wechseln? Vor allem die kleinen Motorräder wuseln kreuz und quer durch alle anderen hindurch – teilweise mit bis zu vier Personen, mit allerlei Hausrat oder auch mal mit ein paar Säcken Zement beladen. Dass sehr viele Moppedpiloten und -pilotinnen keinen Helm tragen, verwundert nicht wirklich.

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Unser VIP-Taxi der besonderen Art

Wir stecken nun mit unserem exklusiven Gefährt mittendrin und erleben hupnah wie das Raum-Zeit-Kontinuum aus den Fugen gerät. Es kreuzen nämlich ständig wild rasende Moppeds aus dem Nichts auf, zielen scheinbar auf unser Heck oder auf die Kofferraumhaube, hupen und – jetzt muss es doch krachen!!! – tauchen auf wundersame Weise jenseits unserer alten Kiste heil wieder auf. Es ist wie es ist: In Kolumbien fahren sie im wahrsten Sinne das Wortes durcheinander – Raum und Zeit existieren nicht! Professor Doc Brown aus „Zurück in die Zukunft“ hätte hier seinen Spaß. Ein rasender, silbernen DeLorean DMC-12 würde hier im Übrigen auch nicht weiter auffallen.

So schwimmen wir also harmonisch mit in diesem beeindruckenden Beispiel für Schwarmintelligenz und nähern uns dem Ziel. Unterwegs bemerken wir noch, dass die Menge Licht, die unser Gefährt ausstrahlt, sehr bescheiden sein muss. Im Inneren leuchtet zumindest nur das Radio und vor uns ist es auch überraschend dunkel. Was uns ebenso wenig begeistert ist die Tatsache, dass wohl einige mikroskopisch kleine, dunkle Mitreisende die Gelegenheit genutzt haben und unsere Füße und Unterschenkel als Blutspendestation nutzen – Autsch!

30 Minuten und 40 Raum/Zeitverschiebungen später (auch eine Mautstelle wurde unbemerkt durchdrungen) halten wir vor der Marina. Unser Fahrer möchte noch spontan das Preis-Leistungs-Kontinuum zu seinen Gunsten verschieben aber das dringt leider nicht mehr bis zu uns durch. Es gelingt uns noch ein bescheidenes Foto dieser VIP-Karosse zu schießen bevor sie – natürlich völlig unbeleuchtet – in Raum und Zeit verschwindet.

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Typische Taxi á la Kolumbien
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